Ich denke, ich werde mich noch mit 80 Jahren (die ich fest vorhabe, zu werden) daran erinnern, wie an jenem verhängnisvollen Freitag Ende September mein Handy klingelte.
„Hallo, Hier ist Dr. G., ich hatte ja versprochen anzurufen. Also ich hab keine guten Nachrichten. Es handelt sich tatsächlich um Krebs. Ich würde Sie bitten um 17:00 Uhr zu mir ins Krankenhaus zu kommen. Dann besprechen wir alles.“
Ich stehe mitten in der Mannheimer City auf der Straße. Alles um mich herum dreht sich. Ich fange an wie wild zu schluchzen. Mitten auf der Straße. Ich weiß nicht ein noch aus. Ich heule so laut und verzweifelt, dass ich nicht mehr gehen kann. Vor einem Friseursalon stehen Sessel auf dem Gehweg. Ich lasse mich in einen reinfallen. Und heule und heule. Ein Passant, der nebenan beim Bäcker sitzt, bringt mir Wasser. Eine Passantin bleibt stehen und sagt jenen legendären Satz zu mir: „Ich bin jetzt schon ein paar Mal an Ihnen vorbei gelaufen. Jetzt muss ich bei Ihnen stehen bleiben. Sie haben schlechte Nachrichten, stimmt’s?“ Ich bejahe diese Vermutung während ich heulend nicke. Japse nur:“Ich habe Krebs, Brustkrebs.“ Und dann kommt von ihr folgende, unglaubliche Rede: „Sie sind jetzt tapfer! Sie machen alles, was die Ärzte sagen. Chemotherapie, Strahlentherapie, Operation, gleichgültig was von Ihnen verlangt wird. Sie tun es! Und sie schmeißen alle aus Ihrem Leben, die Ihnen nicht gut tun! Haben Sie gehört? Alle Energieräuber raus aus Ihrem Leben, haben Sie mich verstanden?!“
Ich schaue die Frau bei ihrem Vortrag nur unglaublich an, nicke wie in Trance. „Ja klar, mache ich“, stammle ich vor mich hin. Wie sehr Ihre Worte sich bewahrheiten sollen, ist mir in diesem Moment und auch noch viele Wochen später überhaupt nicht klar.
Alles machen, was verlangt wird. Jede Therapie als Chance begreifen und sei sie noch so hart. Den Menschen mit Licht die Hauptrolle in meinem Leben geben. Die Menschen, die mich schon immer viel zu viel kostbare Energie gekostet haben, aus meinem Leben verbannen. Und schon türmen sich die ersten Riesenaufgaben vor mir auf. Die Besteigung des Mount Everest ist ein Klacks dagegen.
Doch zu diesem Zeitpunkt gibts nur eins: Schock, Schock, Schock – dicht gefolgt von Angst, Angst, Angst. Dazu wirkt die ganze Welt, als ob sie sich hinter einer Folie verbergen würde. Die ganze Welt verschwindet hinter dieser Folie. Es ist, als ob man nach ihr greifen wollte, aber man greift in Nebel. Die ganze Welt dreht sich weiter. Nur man selbst ist aus Raum und Zeit verbannt. Man wird von einer Sekunde zur anderen zum Zuschauer. Der Film geht weiter. Und ich? Ich stehe wie vor einer Kinoleinwand. Kein Zurück in den Film. Egal was ich jetzt anstellen würde. Der Film namens „Alltag“ wird für mich unzugänglich. Ich bin raus. Und eine neue Spule ist noch nicht aufgezogen. In welchen Film ich jetzt für Monate, für Jahre gar geraten werde, nicht greifbar, fassbar. Ich bin in Nebel eingehüllt.
Ich werde von einer Friseurmitarbeiterin in den Salon gebeten. Ich bekomme Wasser und einen Raum, in dem ich telefonieren kann. Ich rufe meinen Mann an, der in einer Stadt 100 Kilometer entfernt von Mannheim arbeitet. Viel zu weit weg, um schnell bei mir zu sein. Ich rufe meine engste Freundin an, die sich sofort auf den Weg zu mir macht. Ich rufe bei der Arbeit an und sage Bescheid, dass ich morgen nicht kommen werde. „Bist du krank?“, fragt mich ein Kollege am Telefon. Krank? Bin ich krank? Ja, scheinbar. Ich habe etwas, dass sich nicht aussprechen lässt. Etwas das sich, wenn man es sagt, wie ein Fremdkörper im Mund anfühlt. Man will es ausspucken. Aber es geht nicht. Ich habe etwas, das andere haben. Nicht man selbst. Nicht ICH selbst. DAS IST NICHT MEIN FILM!
Es ist 12:00 Uhr Mittags. Was soll ich jetzt bis 17:00 Uhr tun? Erst um 17 Uhr soll ich mit einem Arzt darüber sprechen, was ich habe, was jetzt mit mir passiert? Das ist doch gar nicht auszuhalten. Ich rufe meine Frauenärztin an. Sie hat Ihre Praxis direkt neben dem Krankenhaus. Ich muss mit ihr reden. Jetzt sofort. Ich will wissen, was das heißt: Brustkrebs. Was bedeutet das für mich? Wie schlimm ist es? Was schlummert da in mir? Was ist jetzt zu tun? Was passiert jetzt mit mir? Die Gedanken überschlagen sich.
In der Praxis angekommen wird es noch gruseliger. Die Arzthelferin weiß schon Bescheid. Erwartet mich schon. Die Ärztin auch. Ich darf sofort durch. Und nun ist mir klar: das hier ist kein Spaß mehr, das hier ist bitter böser Ernst. Wenn ich an einem vollen Wartezimmer unangemeldet vorbei marschiere und direkt in den Besprechungsraum darf, dann stimmt definitiv etwas nicht. Ich trete über die Zimmerschwelle. Ich trete über eine Schwelle. Ich betrete eine Welt, von der ich noch vor wenigen Stunden steif und fest behauptet hätte, dass sie niemals meine werden könnte. Ich bin eine von den 500 Tausend neu Erkrankten im Jahr. Ich hab das böse Wort mit „K“. Dieses Wort, das man am Besten gar nicht ausspricht. Dieses Wort, das die meisten Menschen im Flüsterton verwenden, wenn sie von jemandem erzählen, der im Freundes-, Familien, Bekanntenkreis erkrankt ist. Ich habe Krebs.