Von Aussichten und Ansichten – oder Prognose Bingo

Da sitze ich nun – fast alle Schritte sind getan. Der Port muss noch raus operiert werden, oder auch Stöpsel oder auch Steckdose von meinen Kindern genannt. Und meine medikamentöse Behandlung steht auch noch an. Satte 10 Jahre soll ich nun Tabletten schlucken, in der Hoffnung, dass K. bleibt, wo der Pfeffer wächst. Oder noch ein Stückchen weiter weg. Ein hartes, ein unglaubliches Jahr liegt hinter mir. Operationen, Chemo-Behandlungen, Strahlentherapie, Reha. Hoffen, Bangen, Verzweifeln, Warten, Freuen, Durchdrehen, Ausflippen, Weinen, Schreien, Schimpfen, Fragen und dann nochmal Fragen, und nochmal Fragen. Vor allen Dingen jetzt nach dem „Ist-es-nun-geschafft?“. Doch egal, welchen Arzt ich frage, er guckt irgendwie verlegen, sich wegduckend, rumdrucksend in eine andere Richtung. Nur einen, extrem von sich selbst überzeugten Kandidaten hatte ich, der schon vor der Behandlung heraus schmetterte: „Sie haben eine 95 Prozentige Heilungschance nach den Therapien!“ Der hatte aber auch den Krebs ein halbes Jahr lang nicht als solchen erkannt. Das relativiert seine Aussage etwas. Sei sie auch die Schönste von allen.

Alle anderen, die ich gefragt habe oder, die auch ohne mein Fragen, ihre Prognosen in den Raum geschmissen haben, waren nicht ganz so überzeugt. „Was soll ich Ihnen jetzt eine Zahl geben, wenn ich nicht weiß, auf welcher Seite der Statistik Sie persönlich stehen?“, sagte der eine. „Zehn Jahre hätten wir jetzt mal für Sie rausgehauen!“, sagte der andere. Und: „Wichtig ist es jetzt, dass Sie klären, wie Sie nach der Krankheit leben wollen“, fügte er bedeutungsschwanger hinzu. „Das Ding hätte Sie innerhalb eines Jahres umbringen können!“, war die ziemlich klare Aussage einer Reha-Ärztin. Na denn. Da weiß man ja jetzt, woran man dran war. Aber weiß man auch, woran man dran sein wird? NÖ. Is aber vielleicht auch besser so. Der Rest der Menschheit ohne K. ist ja auch nicht so erpicht darauf, sein Todesdatum genau zu kennen.

10 Jahre ist eine hübsche, runde Zahl. In 10 Jahren könnte meine Tochter schon mit dem Studium fertig sein und ich habe sie vielleicht, bereits 10 Mal über einen doofen Kerl hinwegtrösten müssen. In zehn Jahren hat auch mein Jüngster sein Abitur in der Tasche und so wie der heute schon drauf ist, wähne ich ihn auf einer Weltreise, im australischen Busch. In zehn Jahren bin ich Ende 50. Das ist jetzt weder beeindruckend alt, aber auch nicht beeindruckend jung. Ende 50 – das ist höchstwahrscheinlich nicht das von uns gewünschte Alter für die aktive Kompostpflege. Sorgt aber jetzt auch nicht wirklich für den Ausruf: „Mein Gott so jung musste sie von uns gehen!“ Ich glaube nicht, dass es mir gelingen wird, diese Zahl so in mein Leben zu integrieren, dass ich mit jedem Tag so umgehe, als ob er ein tonnenschwerer Rohdiamant wäre. Dafür sorgt schon meine lustige Familie. Aber sie holt mich hoffentlich oft wieder runter, wenn ich mit unnötigem Käse beschäftige oder mich wegen Blödsinn ärgere.

Und dann gibts ja noch die andere Seite der Statistik. Die, die mir dann trotz aller Ärzte-Unke Enkel und Gichtfinger und einen Rollator und einen Buckel beschert. Wissen tut das nur „der da oben“. Und das ist auch gut so.

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