Solidarität? Von der Suche nach dem Zusammenhalt…

pexels-photo-715807Alle propagieren sie den Zusammenhalt. Die gelebte Solidarität trotz Distanz. Die Herzenswärme ohne wirkliche Umarmungen. Und ich bin mir sicher, dass diese an vielen Orten auch wirklich praktiziert wird.

Etwa wenn hier in unserem Mehrfamilienhaus füreinander eingekauft wird, vor allem für die älteren, die nicht mehr raus sollen. Wenn ich Blumen vor der Tür finde, die meine liebe Freundin aus Frankfurt hingelegt hat, obwohl sie an diesem Tag ihren Vater in Mannheim zu Grabe tragen musste und durchaus in Gedanken ganz bei sich und ihrer Familie sein dürfte. Wenn meine Mutter Ersatzteile einer uralten Spielkonsole über e-Bay klar macht, damit mein 10-Jähriger Sohn sich die Ferien auch mal mit alten Nintendo Spielen vertreiben kann. Wenn die Englischlehrerin in einer ausführlichen liebevollen E-Mail auf unsere Elternnöte eingeht und auf herzerfrischende Art und Weise zugibt, dass sie selbst auch ein wenig ratlos sei, wie der Unterricht ohne Unterricht bestmöglich weiter gehen könne.

In all diesen Situationen knüpfen die Menschen ein Band mit kleinen, einfachen Gesten, manchmal einfach auch nur mit der Botschaft: „Ich versteh Dich, ehrlich gesagt, begreife ich diese Welt auch gerade gar nicht mehr, aber diese Unsicherheit, die verbindet uns!“

Aber es gibt da auch die andere Seite. Und die musste ich und meine nächsten Angehörigen auch mehr als einmal erleben.

Mein Bruder etwa, der in der Lebensmittelbranche tätig ist und dem letzte Woche ein Kunde, Schläge angedroht hat. Der Kunde redete sich komplett in Rage, weil er Schuhe suchte. Er befand sich aber im Lebensmittelbereich und mein Bruder konnte da nicht helfen, bat den Kunden, einen Kollegen aus der entsprechenden Abteilung um Hilfe zu bitten. Der Kunde tobte, schrie, erklärte, er habe wegen dem ganzen „Sch…“ seine Arbeit verloren und er wolle jetzt und sofort seine Schuhe, sonst haue er zu. Der Arm war schon zum Schlag gehoben, als er es sich dann doch anders überlegte und abhaute. Solche und so ähnliche Szenen hat mein Bruder schon öfter erleben müssen und die letzte dieser Szenen hat ihm jetzt einen Nervenzusammenbruch beschert. Er ist krank geschrieben und schafft es nicht einmal mehr, einkaufen zu gehen.

Bei der Suche nach einem geeigneten Facharzt stoße ich auf eine andere nicht gelebte Solidarität. Die zwischen Ärzten. Kein Neurologe, den ich kontaktiert habe, war bereit, kurzfristig einen Nottermin zu vereinbaren. Als ich darauf hinwies, dass es wegen der Corona-Krise doch jetzt sicher öfter zu solchen Anfragen käme und man sich da vielleicht als Praxis darauf einstellen müsse, bekam ich die Antwort:“Eben genau aus diesem Grund haben wir beschlossen keine Nottermine zu vergeben, das wären ja viel zu viele Termine. Am besten Sie wenden sich an eine entsprechende Klinik.“ Und dreimal darf man raten, was diese arme Klinik ist: Überrannt, überlaufen und die Ärzteschar komplett überarbeitet.

Und dann gibt es da noch diese sinnlosen, giftigen Diskussionen, die mich wirklich entsetzen. Diese Diskussionen, wer denn nun in dieser Krise Angst haben dürfe und wer nicht. Wer sich beschweren dürfe und wer nicht. Wer weinen dürfe und wer nicht. Klar, die Helden der Stunde, die raus gehen, für uns da sind, wie mein Bruder, wie die Krankenschwestern, die Ärzte, die Pfleger, die Polizei, die Feuerwehr etc. all die dürften natürlich Angst haben, sich beschweren, weinen und erschöpft sein. Der Rest habe die Klappe zu halten. So ein Artikel im „Spiegel“, der mir munter weiter geleitet wurde, weil ich zu ehrlich bin und auch mal zugebe, dass es hier bei uns bisweilen gewaltig kracht, die Kinder spinnen, der Ehemann dazu, die Ängste und Sorgen auch mal überkochen und auch wir nicht immer mit dieser ungewissen Zukunft klar kommen. Aber weil wir ja zur „Home-Office-Elite“ gehören würden, deren einzige Sorge sei, die genervten, gelangweilten Bälger zu be-spaßen, hätten wir einfach die Füße still zu halten.

Wow…. so einfach mal ich mir die Welt. So treibe ich in eine unsichere Welt noch mehr Keile, zwischen „den Helden“ und „Nicht-Helden“, den „Verwöhnten und Beschützten“ und den „An der Front-Kämpfern“, zwischen den „die machen sich Sorgen, wo keine sind“ und jenen, die tatsächlich „lebensgefährlich leben“. Mal ehrlich? Bringt uns das weiter? Geht es der Krankenschwester besser, wenn ich zuhause dreimal am Tag freudestrahlend erkläre, wie privilegiert wir doch sind, weil wir ja nicht im Krankenhaus arbeiten müssen? Hat mein Bruder bessere Nerven, wenn ich meinen Kindern die Traurigkeit verbiete, wenn sie mit dem Fahrrad an ihrer Schule vorbeifahren und mir sehnsüchtig zeigen:“Guck mal Mama, da oben im zweiten Stock, da ist mein Klassenzimmer!“ Geht mein Hausarzt zufriedener ins Bett, wenn ich ihn nicht um ein paar Schlaftabletten anhaue, weil mich manchmal nachts die Angst übermannt?

Gibt es Angst, Sorge und Not erster, zweiter, dritter Klasse? Haben wir vorher Äpfel mit Birnen verglichen? Haben wir früher auf die Not in den 3. Welt-Ländern verwiesen oder in den Flüchtlingscamps, wenn die beste Freundin Liebeskummer hatte oder Krach mit dem Ehemann?

Ich glaube kaum, dass dies die Solidarität ist, die ständig von uns allen gefordert wird. Stehen wir uns wirklich bei. Nehmen wir die Sorgen und Ängste aller Ernst. Die des Mannes am Band, der jetzt 700 Euro weniger in der Tasche hat, weil sein Arbeitgeber Kurzarbeit angemeldet hat, die der Ärztin auf der Intensivstation, die drei kleine Kinder zuhause hat, die jetzt der Papa im Home-Office versorgen muss, die des Restaurant-Besitzers, der sich schlecht mit „Pizza to go“ über Wasser halten kann, aber auch die des 71-Jährigen Onkel (mein Onkel), der sich komplett zuhause eingesperrt hat und nicht einmal seinen Geburtstagskuchen aus unseren Händen entgegen nehmen wollte, vor lauter Angst, er könne sich anstecken, die der Eltern, die sich fragen, „wie soll ich Job und Home Schooling auf die Reihe kriegen, ohne mich demnächst auch ins Zentral Institut für seelische Gesundheit begeben zu müssen“, die des Home-Office Ehemannes, dessen Ohren und Hirn glühen, weil sich seine Telefonate verdreifacht haben und er sich, obwohl zuhause, nicht einmal mehr aufs Klo traut, aus Angst mit der ganzen Arbeit bis zum Abend nicht fertig zu werden, und und und  – Die Reihe könnte endlos fortgesetzt werden, weil jeden Ängste, Sorgen, Nöte, Sehnsüchte und tausend offene Fragen plagen.

Nehmen wir sie ernst. Alle. Hören wir zu. Lassen wir sie zu und hören wir auf, einander auch noch zu beurteilen und zu bewerten. Dem Virus ist es eh schnurz. Der macht keine Unterschiede. Passt auf euch auf. Und auf die anderen. Wie immer virtueller Drücker

Eure Nicoletta

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