


Heute Abend sind wir zu sechst. Die Kernfamilie plus eine Freundin mit Sohn. Unser engster Kontakt, seit Corona beschloss die Welt zu okkupieren. Es ist halb neun Uhr abends und nach dem Abendessen erlauben wir uns, drei Mini-Tänzchen im Wohnzimmer. Mit Abstand. Aus dem Lautsprecher ist fast auf Zimmerlautstärke, „Ich kriege nie genug vom Leben“ zu hören. Von den drei Kindern, zweimal 11 und einmal 16 so gewünscht. Die alte Dame unter uns öffnet ihre Eingangstür und lässt sie mit einem lauten Knall zufallen. Sie wirft sie zu. Das macht sie nicht nur abends so, sondern auch, wenn wir, ihrer Meinung nach, eine Telefonkonferenz zu laut halten oder nachmittags um 17 Uhr ein Bild an der Wand anbringen. Wir sind zu laut. Wir kriegen auch jetzt oder gerade jetzt nicht genug vom Leben. Vielleicht weil es nie zerbrechlicher war. Es sind drei Mini Tänzchen. Dann ist unser privater „Clubabend“ auch schon vorbei. Nicht nur wegen der alten Dame von unten, denn natürlich nehmen wir auch am Samstag Abend um 20:30 Uhr auf ihre Belange Rücksicht. Sondern weil wir selbst, bei diesen drei Mini-Tänzchen, ein Zugeständnis an unsere drei Kids (und auch an unsere ungebremste Lust am Leben?), irgendwie ein schlechtes Gewissen haben. Wir feiern.
Feiern ist das neue Schimpfwort. Es gibt nichts zu feiern. Die Welt versinkt in einem Virus-Zahlenmeer. Wenn ich so doof bin, vor dem Schlafen gehen, noch einmal die Tagesschau App zu öffnen, versinke ich in diesem Zahlenmeer. 45 tausend Neuninfizierte in Frankreich, 23 Tausend in Großbritannien, 8 Tausend in Österreich. Infizierte und Inzidenzen statt Geselligkeit und Gute Nacht Geschichten. Das Zahlenmeer spult sich vor meinem inneren Auge ab, wie im Film Matrix der grüne Zahlen-Tabellen-Salat auf dem Computer Bildschirm. Und dahinter, wie hinter grünen Gittern, tanzt mein 16-Jähriges Mädchen im Wohnzimmer den Moonwalk in grünen, schalldichten Wollsocken.
Heute hat mich meine Tochter gefragt, wann ich zum ersten Mal in einem Club war. „Na, so mit 16“, flüstere ich schon fast beschämt. „Aber halt ganz selten und um Mitternacht musste ich wieder zuhause sein, Du kennst doch Opa“, schiebe ich dann noch beschwichtigend hinterher. Sie nickt und sagt erst einmal nichts. „Nächstes Jahr, wenn ich im Herbst 17 werde, dann kann ich bestimmt auch mal zum Tanzen gehen, meinst Du nicht?“, fragt sie dann, Minuten später, nachdenklich aus dem Autofenster schauend. „Ja“, sage ich. „Bestimmt! Vielleicht gibts im nächsten Sommer Open Air Clubs. Draussen zu tanzen, in einer warmen Sommernacht, ist noch viel schöner“, mache ich ihr Hoffnung.
Heute möchte ich nicht nur für meine 16-Jährige eine Lanze brechen, sondern für alle jungen Menschen da draußen, denen ein Virus die Jugend stiehlt. Ich habe keine Lust mehr auf Artikel, mit Titeln wie „Genug Gejammert“ oder „Heult Leise!“. Und ständige Ermahnungen der Politik, wie „Jetzt ist nicht die Zeit zu feiern!“ Wir wissen das. Und die jungen Menschen wissen das auch.
Es geht doch mehr als um das Feiern. Das Feiern steht doch nur für einen Lebensabschnitt, der schon biologisch komplett auf Ausbruch, Auszug, Aufbruch ausgerichtet ist. Aufs Abnabeln und Abhauen. Auf Protest, Abgrenzung und Abenteuer. Auf der Suche nach der eigenen Identität, der eigenen Wahrheit, dem eigenen Ich. Selten hat man auf all diese Fragen im Wohnzimmer auf Wollsocken tanzend eine Antwort gefunden. Als junger Mensch grenze ich mich natürlicherweise nicht nur von meinen „Alten“ zuhause ab, denen auch am Samstag Abend um 22:30 Uhr die Augen zufallen. Sondern ich suche mich in der Gruppe. Es ist mir viel zu doof, eine Möchtegern soziologische Abhandlung über die Bedeutung der Peergroup für die Jugend zu verfassen. Aber es ist mir unglaublich wichtig, alle Mahner, Verurteiler und erhobene Zeigefinger jenseits der 40 dazu aufzufordern, einmal kurz darüber nachzudenken, was sie so mit 16,17, 18 und auch 20 Jahren am Samstag Abend am liebsten gemacht haben. Und wer mir jetzt mit der Nummer kommt: „Mein Gott man wird ja mal ein, zwei (drei? vier?) Jahre aufs Feiern verzichten können, um dann ein gesundes Leben in Wohlstand und Sicherheit zu führen“, dem kann ich nur erwidern, „Abwarten“ ist auch so n Wort mit A, das in der Biologie der Jugend nicht vorgesehen ist. Jugend ist „Gleich, Jetzt, Hier!“ Und ungebremste Ungeduld.
Nur um eines klar zu stellen. Außer Wollsocken Wohnzimmer Tänzchen feiert hier bei uns niemand irgendetwas. Weder die Alten noch die Jungen. Meine Tochter hat sich als Kind einer Hochrisiko Patientin seit März fast komplett in Selbstisolation begeben. Nicht weil ich sie einsperre, sondern weil sie das selbst so entschieden hat – mit 15 Jahren, um ihre Mutter zu schützen. Mich gruselt es, wenn sie so Sätze sagt, wie „Jetzt seid ihr eben meine besten Freunde“ und uns Eltern meint. Das ist definitiv nicht normal. Das ist Corona Normal. Ich plädiere hier auch nicht fürs Weiter Feiern. (Heutzutage muss man ja alles babydeutlich ausdrücken, weil jeder gerne in seiner eigenen Blase alles falsch verstehen will). Ich bin weder fürs Gruppen-Treffen, heimlich zuhause, noch fürs Groß Hochzeit oder Geburtstag feiern. Und zwar nicht nur, weil meine Chancen, im Fall einer Infektion, richtig gut stehen, ein paar Wochen das selbständige Atmen abgenommen zu bekommen. Sondern weil ich es für selbstverständlich halte, dass wir alle, ob Jung oder Alt, krank oder gesund, uns solidarisch zeigen und uns beschränken – auf dass eines Tages niemand mehr davor Angst haben muss, einsam, mit einem Schlauch im Hals seine letzten Atemzüge nicht selbst aushauchen zu dürfen. Sich zu beschränken ist in dieser völlig absurden Zeit, die einen täglich an einen Science Fiktion Film erinnert, ein unumstößliches Gebot. Aber es ist wider die Natur der Jugend. Dass sie sich dennoch in den allermeisten Fällen freiwillig beschränkt, „das Feier ich voll!“