Verschlafen blinzle ich mit den Augen und schaue dabei in den Badezimmerspiegel. Die neuen Haare bilden nach einer wieder durchgemachten Nacht einen interessanten Hahnenkamm in der Mitte. Der Name Hahnenkamm trifft diese „Frisur“ geradezu perfekt, denn der Friseur meines Vertrauens hat dem neuen, grauen Babyhaar mit einem Naturton einen rötlichen Schimmer verpasst, so dass ich, nach wie vor mitten in der Akuttherapie, nicht so alt aussehe, wie ich mich fühle. Sechs Wochen nach der letzten Chemo und zu Beginn der Strahlentherapie, schmerzt nach wie vor jedes Gelenk. Fast Schmerzfrei bin ich nur mit Kortison und das sorgt wiederum für schlaflose Nächte. Nach wie vor konnte ich mich nicht klar für eines der Übel entscheiden, so dass ich mal das eine, mal das andere wähle….
Doch beim Blinzeln fällt mir um halb fünf Uhr früh auf: Da blinzelt etwas neues mit: Sind das etwa Wimpern? Ja, kleine, stummelige, neugierige, winzige, verunsicherte Wimpern. Kreuz und Quer, ein bisschen verloren, mal dicht beinander, mal mit weitem Abstand voneinander, unsicher ihres Daseins klimpern sie müde mit.
Und so wird mir klar, die kleinen, verunsicherten Dinger passen perfekt zu meinem aktuellen Gemütszustand. Da ist die Neugierde wieder an einem ganz normalem Alltag Teilhaben zu wollen, da ist auch der Versuch, sich wieder ins normale Leben zu integrieren, da sind die zaghaften und auch mal stürmischen Zukunftspläne, und doch auch die Leerstellen, weil das Vergangene noch zu schwer wiegt und wortwörtlich Kahlschlag verursacht hat, am und auf dem Körper und in der Seele.
„Siehst Du toll aus“, ruft so mancher guter Freund/so manche gute Freundin aus, wenn sie mich mit meiner in rot gehaltenen Sträflingsfrisur sehen. Und ich glühe ein bisschen vor Stolz und Kortison und künstlich erzeugter Wechseljahre…. Wenns gut läuft, verlaufe ich nicht gerade in dieser netten Situation und mein Chemo schwangerer Körper hat Erbarmen, bis wir wieder miteinander alleine sind…
Auch der hat sich verändert. Noch eine Metamorphose. Die niedliche Kinder-Kleidergröße xs hat sich dank allem, was sie in den letzten neun Monaten in mich reingepumpt haben, in eine „staatliche 36 bis 38“ verwandelt. Und den Spruch meiner Mutter: „Man muss ja mit Ende 40 auch nicht Kleidergröße 34 tragen“, kann ich nicht verknusen. Wenn ich gerade „gut“ mit mir bin, sage ich mir: „Da steht sie nun, die gestandene End-Vierzigerin. Mit Frisur, die zu ihrem Gesicht steht, Vollweib und nicht Möchtegern-Teenie und mit Kriegsverletzungen. Aber Kriegsverletzungen, die vom nahen, sehr nahen Sieg kündigen.“
Gestern in der Strahlentherapie Praxis saß eine Patientin, mit geradezu dem gleichen Krankheits- und Behandlungsverlauf. Braungebrannt, stark, schön, mit noch weniger erstem Haar, ohne Wimpern, ohne Perücke. „Ich hab den Tod besiegt. Was will ich mehr!“, sagt sie ohne mit der nicht vorhandenen Wimper zu klimpern. Wow. Genau. Was will ich mehr?
Es ist fünf Uhr früh. Ich habe noch eine Stunde bis zum Kinder wecken, Schulbrote schmieren und die ersten Zankereien am Frühstückstisch ausgleichen, bis das Taxi kommt und mich jetzt 28 Mal zur Strahlentherapie fährt. Die Vögel veranstalten im Garten schon ein Mega Konzert. Einfach toll. Ich werde mir jetzt ganz alleine, in der Stille, einen Kaffee kochen und in der Zeitung blättern. Noch toller.
Ich glaub, ich kleb nicht mehr…. Mit falschen Wimpern sehe ich aus wie Daisy Duck…. Niedlich aber auch ein bisschen albern…..Naja jedenfalls nicht mehr jeden Tag und zu jedem Anlass. Willkommen, ihr kleinen, verstörten Wimpernstummeln. Kommt wir schauen was der Tag so bringt.